Vergänglichkeit

Veränderung ist manchmal nicht leicht. Und manchmal wollen wir sie gar nicht in unserem Leben spüren. Es gibt aber Umstände, die uns dazu bringen, mit Veränderung umgehen zu müssen. Wenn dies der Fall ist, bleibt uns immerhin die Möglichkeit, in die freie Entscheidung zu gehen und die Veränderung zu akzeptieren. Und dann können wir – so gut es eben gerade geht – das Beste aus der Situation machen und mit offenem Herzen weiter durch das Leben gehen.

In dem Bewusstsein, dass nichts so bleibt wie es ist, lebt es sich letztendlich leichter.

Im letzten Jahr noch hat die große Buche, vor der mein Hund Ocean sitzt, aufrecht und in voller Größe bei uns im nahen Wald gestanden. Schon im Frühjahr hatte ein Sturm sie aufgerüttelt. Der Wurzelballen hatte sich an einigen Stellen nahe um den Stamm herum etwas erhöht und ich hatte schon befürchtet, dass ein früher Herbststurm sie endgültig aus dem Leben reißen würde. Bei jedem Spaziergang blieb ich vor ihr stehen und wünschte ihr, dass sie sich halten kann. Vor einiger Zeit war es dann leider soweit. Ein ziemlich heftiger Sturm hat gleich mehrere Bäume gefällt. Einer von ihnen war dieser mächtige und viele Jahrzehnte alte Baum. Am Tag nach dem Sturm habe ich dort gestanden und einige Tränen verdrückt. Meine Tränen galten der Tatsache, dass auch lieb gewonnene Dinge, gute Freunde, geliebte Menschen und Tiere sich verändern oder sogar ganz aus meinem Leben verschwinden. Die Vergänglichkeit kommt mir dann in den Sinn.

Vergänglichkeit bedeutet, dass alles, was entsteht, auch irgendwann wieder vergehen wird. Alles. Und es bedeutet, dass sich alles in einem ständigen Wandel befindet. Dies schließt persönlichen Besitz, Dinge und auch Beziehungen ein. Dies ist eine Tatsache, der gegenüber wir uns aber manchmal am liebsten verschließen.

Betrachtet man Vergänglichkeit nur von dieser Seite, kann sie durchaus schmerzhaft und sehr unerwünscht sein. Es gibt aber noch eine weitere Seite der Vergänglichkeit.

Ich bin auf der Treppe gestürzt. Wie so etwas halt passiert. Ich war mit Ocean an der Leine bei mir im Treppenhaus noch auf der obersten Etage auf dem Weg zu unserem nachmittäglichen Spaziergang. Meine Wanderschuhe waren nicht ganz sauber und ich war mit den Gedanken wohl schon im Wald und nicht bei dem Schritt, den ich gerade getan habe. Und genau da passierte es. Auf einmal war ich in der Luft und schlug einen Moment später mit meiner rechten Körperhälfte mit dem unteren Rippenbogen auf der Kante einer Treppenstufe auf. Mein Hinterteil eine Stufe darunter. Mein rechter Ellbogen traf irgendwo anders auf ebenso heftigen Widerstand.

Wow. Und da lag ich dann. Mitten auf der Treppe. Ich bekam erst mal keine Luft. Eine lange Sekunde später setzte mein Atem wieder ein. Ich scannte meinen Körper und nahm die Auflageflächen wahr. Ganz schön unbequem. Erst dann konnte ich mich ganz langsam wieder aufsetzen. Mein Puls raste und ich hatte einige Mühe, mich zu sortieren und hinzusetzen. Atmen, was für eine schöne Sache, wenn man das kann. Nur Atmen. Nur Sitzen. Nichts anderes war zu tun. Genau in diesem Moment kam ein junger Mann die Treppe rauf und sah mich dort sitzen „Kann man Ihnen etwas Gutes tun?“ fragte er mich. Ich war noch völlig verwirrt, bedankte mich und sagte, dass ich gerade gefallen sei und ich mich jetzt erst mal sortieren müsse. Aber es sei mir nichts Schlimmes passiert. Alles noch dran. Und schon saß ich wieder alleine dort. Dann erst packte der Schmerz richtig zu. Er war so heftig, dass ich von meinem Atem weggerissen wurde und erst mal eine Runde meinen Tränen freien Lauf ließ. Ocean leckte mich ab und wedelte wie wild. Er hatte mitbekommen, dass ich etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Ich habe ihn gestreichelt und damit ihn und mich beruhigt. Atmen. Immer wieder nur auf meinen Atmen achten. Das reichte.

Und wie herrlich, dass es so etwas wie Vergänglichkeit gibt. Denn schon nach kurzer Zeit ließ der Schmerz so weit nach, dass ich langsam aufstehen und mich wieder in meine Wohnung bewegen konnte. Dort ging es dann erneut los. Gedanken tauchten auf. Was alles hätte passieren können. Wie anders hätte dieser Sturz auch ausgehen können? Bei so etwas hätte ich schnell ein Pflegefall werden können. Und wie schnell so ein Leben eine andere Richtung nehmen kann. In dem Gewahrsein des Schmerzes wurden mir auch die Gefühle von Hilflosigkeit, Trauer und Selbstmitleid bewusst. Aber mit der Wahrnehmung all dieser Gefühle und des Schmerzes konnte ich mir den Raum nehmen, den ich brauchte, um ganz bei meinem Atem zu bleiben und durch all dies gut hindurchgehen, hindurchatmen zu können.

Einen Tag später konnte ich mich wieder etwas bewegen und mich darüber freuen, dass meine Teamkollegen mir versichert haben, auch eine Zeit lang ohne meine Unterstützung auszukommen. Ich bekam dadurch die Gelegenheit, mich um meinen Körper und um meinen wachgerüttelten Geist zu kümmern. Wach, weil ich mit der Vergänglichkeit in Kontakt gekommen bin und mein Leben wieder als solches sehen kann, was es ist. Eine fragile und sehr schnell vergängliche Angelegenheit, die es verdient, in Frieden mit mir und in einem mitfühlenden und wohlwollenden Miteinander mit allen Wesen dieses Universums zu leben.

Ich habe großes Glück gehabt. Es ist nichts gebrochen und auch meine Nieren haben den Schlag gut überstanden. Ich werde noch einige Zeit etwas von dem Sturz haben, sagte meine Ärztin. Auf die herrlichen Farben des natürlichen bodypaints bin ich gespannt 😉 Mein Leben aber ist um diese Erfahrung bereichert. Ich gehe meinen Weg mit einer gehörigen Portion Demut weiter und nehme mir vor, achtsamer zu sein als bisher. Und dass ich bei dem Sturz so glimpflich davongekommen bin, dafür bin ich sehr sehr dankbar.

Ähnlich verhält es sich auch mit dem Jahreswechsel. Ein Jahr vergeht, ein neues Jahr kommt. Ein Jahr mit angenehmen, aber auch mit unangenehmen Momenten rund um das Virus geht. Und auch das neue Jahr wird wieder beides für uns bereithalten. Unangenehmes wie Angenehmes. Von wirklicher Bedeutung ist aber nur der jetzige Moment. Und eigentlich ist es völlig unerheblich, was da gerade ist. Denn in diesem einzigen Moment, nämlich im JETZT, ist die ganze Großartigkeit unseres Seins schon enthalten.

Mit einer größeren Bewusstheit über die Vergänglichkeit und um die faszinierende Bedeutung des jetzigen Moments wünsche ich Dir viele wundervolle Momente nicht nur während der Weihnachtsfeiertage und einen sanften Übergang in das neue Jahr.

Einen guten Rutsch zu wünschen spare ich mir bei dieser Erfahrung dann doch lieber…